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10 | 2017Viola Heth

„Vor meiner Tür soll gebaut werden? Nicht mit mir!“ Über NIMBY & weitere Phänomene

<h1>„Vor meiner Tür soll gebaut werden? Nicht mit mir!“ Über NIMBY & weitere Phänomene</h1>

NIMBY, LULU, BANANA, NOOS, NOPE, CAVE – auf den ersten Blick wirken sie kryptisch, doch verweisen die Akronyme alle auf ein ähnliches, weit verbreitetes Phänomen: Straßenbahnprojekte, Windkraftanlagen oder auch die Verlegung neuer Stromtrassen rufen vor allem bei den Menschen aus der näheren Umgebung vielfältigen Protest hervor – selbst wenn sich die Vorhaben positiv auf die gesamte Region oder darüber hinaus auswirken. Sie wenden sich gegen Entwicklungen, die ihre Nachbarschaft und damit ihre eigene Lebensqualität beeinträchtigen könnten.   

Von den USA über Großbritannien nach Deutschland 

Neu ist das Phänomen keineswegs: Als heutzutage gängigste Variante tauchte die Bezeichnung NIMBY (= Not In My Back Yard) bereits um 1980 in den USA auf und verbreitete sich in den späten 1980er Jahren in Großbritannien. Für den deutschen Sprachraum lässt sich das Sankt-Florian-Prinzip gleichsetzen, das an den Heiligen Florian als Schutzpatron zur Abwendung von Feuer und Dürre angelehnt ist („Heiliger Sankt Florian | Verschon‘ mein Haus | zünd‘ and’re an!“). Doch nicht zuletzt mit Beginn der beispiellosen Proteste um Stuttgart 21 im Jahr 2010 hielt NIMBY auch hierzulande Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch.   

NIMBY nicht alleiniger Grund für Protest 

Diese Art des bürgerschaftlichen Widerstands tritt lokal in sehr ähnlichen Argumentations- und Aktionsformen auf – meist dann, wenn es um unerwünschte Raumplanungen und Infrastrukturprojekte (Straßenbahnausbau, Stromtrassenverlegung, Bau von Windkraftanlagen o. ä.) in der unmittelbaren Umgebung geht. In vielen Fällen lässt sie sich der „slow growth“-Bewegung zuordnen, die sich gegen „zu schnellen, zu abrupten“ Wandel im sozialräumlichen Umfeld wendet.1

Für Proteste dieser Art kann jedoch nicht nur der NIMBY-Effekt herhalten. Zahlreiche weitere, teils implizite Faktoren bewegen die betroffenen Bürgerinnen und Bürger dazu, ihre Stimme zu erheben. Dazu können einzelne Aspekte des Projekts wie Umweltauswirkungen, hohe Kosten oder ein vermeintlich zu geringer Nutzen genauso zählen wie eine als diffus unangenehm empfundene Beschleunigung des Alltags oder ein verbreitetes Misstrauen gegenüber Vertretern aus Politik und Wirtschaft. In diesem Sinne wird nicht selten die Art der Kommunikation von Vorhabenträgern kritisiert, die aus Sicht der Bürgerschaft teils herablassend und intransparent wirkt.²

Beteiligungsparadox: Weniger Einfluss trotz steigendem Interesse 

Mit dem gestiegenen Bedürfnis an der Entwicklung im eigenen Umfeld teilzuhaben, geht eine Beobachtung einher, die im Fachjargon unter dem Begriff Beteiligungsparadox subsumiert wird. Im Zuge des Planungsverlaufs von Infrastrukturprojekten entsteht häufig eine Lücke zwischen den Angeboten des Vorhabenträgers, die Öffentlichkeit in den Prozess einzubeziehen, und dem tatsächlichen Interesse und Diskussionsbedarf der Betroffenen. Denn letzteres setzt häufig erst dann ein, wenn die Bagger sprichwörtlich vor der eigenen Haustüre anrollen. Die Planungen und damit die Möglichkeiten zur Einflussnahme sind zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen, da sie in der Regel mehrere Jahre im Voraus stattfinden. Selbst wenn der Projektverantwortliche die formell vorgeschriebene Beteiligung erfüllt hat, können hieraus Konflikte mit Anwohnern erwachsen, die sich nicht rechtzeitig oder ausreichend informiert und beteiligt fühlen. An der Stelle kann es dann richtigerweise nicht mehr um Beteiligung als vielmehr darum gehen, Akzeptanz für die geplanten Baumaßnahmen zu fördern.   

Wie also mit dem beschriebenen Paradox in der Praxis umgehen? Aus unserer Erfahrung heraus können wir konstatieren: Vollends auflösen lässt es sich nicht, liegt es doch gewissermaßen in der Natur der Sache (oder der Menschen), sich für Entwicklungen erst richtig zu interessieren, wenn sie konkret und damit greifbar und nachvollziehbar werden. Abstrakte, frühzeitige Planungen für ein zukünftiges Bauvorhaben lassen sich darunter in der Regel nur schwer fassen. Nichtsdestotrotz ist es Aufgabe einer gezielten und durchdachten Kommunikation, diesen Umstand durch den Einsatz frühzeitiger kommunikativer Maßnahmen und gut aufbereiteter Informationen sinnvoll zu begleiten und damit einem ausgewachsenen Konflikt entgegenzuwirken. Die formell festgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung lässt sich dabei um weitere informelle Elemente erweitern, die zumindest die Möglichkeiten der Beteiligung erhöhen, wenngleich sie nur durch eine klare Kommunikationslinie genau dort ankommen, wo sie sollen – bei den Bürgern vor Ort.   

Abschließend noch die Auflösung und freie Übersetzung des Buchstabensalats, schließlich stammen die meisten Akronyme aus dem US-amerikanischen Sprachschatz. Und apropos Begrifflichkeiten: Nicht alle Bezeichnungen sind übrigens Selbstzuschreibungen der beteiligten Akteure – ein sensibler Umgang scheint daher durchaus ratsam.   

NIMBY = Not In My Back Yard – Nicht vor meiner Tür
LULU = Locally Unwanted Land Use – Lokal unerwünschte Landnutzung
BANANA = Build Absolutely Nothing Anywhere Near Anything – Bauen Sie absolut nichts irgendwo neben irgendetwas
NOOS = Not On Our Street – Nicht in unserer Straße
NOPE = Not On Planet Earth – Nicht auf der Erde
CAVE = Citizens Against Virtually Everything – Bürger gegen (fast) alles   

Literatur    

1 Vgl. Ulf Matthiesen (2002): NIMBY und LULU am Stadtrand — Bürgergesellschaftliche Streitformen um lokale Raumnutzungen und Raumkodierungen im engeren Verflechtungsraum. In: Ebd. (Hrsg.): An den Rändern der deutschen Hauptstadt. Opladen: Leske + Budrich, S. 173.  
² Vgl. Frank Brettschneider (2015): Richtig kommunizieren. „Stuttgart 21“ und die Lehren für die Kommunikation bei Infrastruktur- und Bauprojekten. In: Günter Bentele et al. (Hrsg.): Akzeptanz in der Medien- und Protestgesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 288.